Ethik ohne Religion

von Bernd Vowinkel

Von Religionsvertretern wird häufig behauptet, dass es ohne Religion keine Ethik gäbe. Selbst viele Eltern, die vom Glauben abgefallen sind, lassen ihre Kinder dennoch am Religionsunterricht teilnehmen, weil sie der Meinung sind, dass ihnen nur auf diese Weise Werte vermittelt werden könnten. Diese Einstellung impliziert, dass Nichtgläubige über keine oder aber nur über eine minderwertige Ethik verfügen. Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Haltung nicht nur überheblich, sondern auch restlos falsch ist.

 

2004 hat unsere Familienministerin von der Leyen ein Bündnis für Erziehung zusammen mit den beiden großen christlichen Kirchen ins Leben gerufen, um den Kindern von klein auf Werte zu vermitteln. Auch die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann wies darauf hin, dass die ersten Lebensjahre eines Menschen entscheidend seien für die Formung seiner Weltsicht. Sie sei überzeugt, dass die Basis der Zehn Gebote durchaus eine gute Grundlage für Wertevermittlung sein könne, erklärte die Bischöfin. Frau von der Leyen bestätigte dies mit der Bemerkung, dass unser Grundgesetz im Prinzip die Zehn Gebote zusammenfasst.

 

Zur Erinnerung, das 2. Gebot lautet:

 

„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten.“

 

Das ist Sippenhaftung und nicht mit den Menschenrechten vereinbar! Liebesentzug wird mit Heimsuchung geahndet.

 

Das 10. Gebot lautet:

 

„Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“

 

Sklaverei ist offensichtlich normal! Frauen gelten als Besitztümer des Mannes!

 

Es gibt also genau zwei Möglichkeiten: entweder unsere Familienministerin kennt das Grundgesetz nicht oder sie kennt die Zehn Gebote nicht, sonst würde sie nicht einen solchen Unfug behaupten.

 

Von diesen Dingen ganz abgesehen, bereitet eine gottgegebene Ethik prinzipielle Probleme. So hat schon Sokrates erkannt, dass eine solche Ethik zu einem logischen Dilemma führt: Sind Gottes Gebote deshalb gut, weil Gott sie gebietet? Wenn ja, wäre es dann moralisch gerechtfertigt, Kinder zu foltern oder zu ermorden, wenn Gott ein entsprechendes Gebot aufstellte?

 

Christen gehen davon aus, dass sie für ein gottgefälliges, moralisches Leben im Jenseits belohnt werden, indem sie ins Paradies kommen. Wer aber aufgrund von Heilsversprechen Gutes tut, der handelt letztlich aus niedrigen Beweggründen.

 

Den meisten Vertretern einer ausschließlich religiös fundierten Ethik ist offensichtlich nicht bekannt, dass es eine ganze Reihe von philosophischen Ansätzen für eine Ethik ohne Religion gibt. Angefangen von den Griechen (Epikur), über das Zeitalter der Aufklärung (Kant, Schopenhauer) bis in die Neuzeit (Bentham, Mill).

 

Grundlage des von Epikur begründeten Hedonismus ist die Erkenntnis, dass es kein Leben nach dem Tod gibt und daher Glück und Lebensfreude im Diesseits gesucht und maximiert werden müssen. Gleichzeitig gilt es Furcht und Schmerz zu vermeiden. Insgesamt ist damit diese Lehre pragmatisch und auf der Erfahrung aufbauend. Die Begründung einer Ethik auf göttliche Offenbarung wird abgelehnt.

 

Immanuel Kant

 

Immanuel Kant hat insbesondere in seinen Werken „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und „Kritik der praktischen Vernunft“ eine ethische Lehre auf Basis der Vernunft abgeleitet. Das Ergebnis war die Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Die Lehre von Kant baut allerdings auf der Existenz eines unbedingten freien Willens auf. Dieser wird mittlerweile vor allem aufgrund der Fortschritte der modernen Hirnforschung stark angezweifelt.

 

Arthur Schopenhauer

 

Arthur Schopenhauer erkennt drei Grundtriebfedern des Menschen: Mitleid, Egoismus und Bosheit. Im Gegensatz zu Kant ist bei ihm die einzige Quelle moralischen Handelns und damit die Grundlage aller Ethik das Mitleid. In „Die Welt als Wille und Vorstellung“ schreibt Schopenhauer:

 

„Wir werden … keinen Anstand nehmen, im geraden Widerspruch mit Kant, der alles wahrhaft Gute und alle Tugend allein für solcheanerkennen will, wenn sie aus der abstrakten Reflexion und zwar dem Begriffe der Pflicht und des kategorischen Imperativs hervorgegangen ist, und der gefühltes Mitleid für Schwäche, keineswegs für Tugend erklärt – im geraden Widerspruch mit Kant zu sagen: der bloße Begriff ist für die echte Tugend so unfruchtbar, wie für die echte Kunst: alle wahre und reine Liebe ist Mitleid.“

 

Dieser Ansatz ist recht gut mit dem heutigen Stand der Hirnforschung vereinbar. Aufgrund unseres Vorstellungsvermögens leiden wir mit Anderen mit und erlangen dadurch die Motivation das Leid abzuwenden. Das Mitleiden kann mit bildgebenden Verfahren auch nachgewiesen werden. Das Maß an Mitleid hängt unter anderem von den Genen, dem Hormonhaushalt und dem persönlichen Erfahrungsschatz ab. Das Mitleid geht dabei über den Einzelfall hinaus und kann durchaus als Grundlage einer universalen Ethik dienen.

 

Jeremy Bentham

 

Von den beiden britischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) wurde der Utilitarismus, d.h. die Lehre von der Nützlichkeit begründet. Sie ist eine moderne Weiterentwicklung des Hedonismus und ist der philosophischen Strömung des Pragmatismus bzw. Empirismus zuzurechnen, während Kants Moralphilosophie die Position des Rationalismus vertritt. Während beim reinen Hedonismus das persönliche Glück im Vordergrund steht, bezieht der Utilitarismus auch das Allgemeinwohl mit ein. Insofern greift die Kritik, dass es sich um eine rein egoistische Ethik handelt, beim Utilitarismus nicht mehr.

 

Der moderne Utilitarismus ist in der Form des Regelutilitarismus (nach Mill) mit Ergänzungen der Fairness und der Gerechtigkeit (nach Lyons) der christlichen Ethik nicht nur ebenbürtig, sondern weit überlegen, weil seine Quellen ausschließlich Verstand und Erfahrung sind und weil auf Hokuspokus vollständig verzichtet wird. Eben dadurch steht er aber auch mit seinen Grundlagen jeder religiösen Ethik entgegen.

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