Ein Jahrhundert evangelische Kirche in Deutschland
Meist steht ja in der geschichtlichen Betrachtung der Kriminalgeschichte des Christentums die Katholische Kirche im Fokus. Karsten Krampitz hat sich hingegen viele Jahre an der Evangelischen Kirche „abgearbeitet“ und gewährte an dem Abend, zu dem die gbsKöln eingeladen hatte, den Zuhörern einen Einblick in sein höchst umfangreiches Wissen über deren grausame Geschichte…
Obwohl Luther unter Freiheit etwas ganz anderes Verstand, als wir es heute in einer aufgeklärten Gesellschaft tun, er sah darin allein die „Freiheit“ dazu, das zu glauben, was er theologisch vorschrieb und absolut nichts anderes, war die Reformation von vielen Menschen damals als Befreiung empfunden worden, da er die bis dahin völlig unhinterfragbare katholische Obrigkeit in Frage stellte.
Und dies ist in der Tat, auch aus säkularer Sicht, die einzige Facette seines Wirkens, die uneingeschränkt als positiv zu bewerten ist: er hatte aufgezeigt, dass nichts alternativlos ist.
Krampitz gab zu bedenken, dass vielleicht Luthers gesamte Reformation nur eine Reaktion auf den Modernisierungsschub durch den damaligen Papst Leo X. gewesen war, unter dem beispielsweise die Juden damals friedlich leben konnten; Luther hingegen stachelte seine Fürsten auf, die Juden zu vertreiben.
(Es scheint in der Geschichte eine Art Gesetzmäßigkeit zu geben, dass stets eine zu liberal gewordene Religion von einer strengeren, menschenfeindlicheren verdrängt wird…)
Die Freiheit der Menschen schränkte Luther auch dadurch massiv mit Bezug auf ein Bibel-Zitat ein: „Keine Obrigkeit ohne Gott“. Gemäß diesem Grundsatz hatte er seine Kirche stets weitaus näher an die Obrigkeit herangeführt, als es bei der katholischen je der Fall war. Alle protestantischen Fürsten waren auch gleichzeitig Bischöfe, was sich bis zum Ersten Weltkrieg ändern sollte.
Aufgrund des Einklangs mit der Macht gab es in Deutschland auch nie eine politische Partei, die die Interessen der Protestanten vertreten hätte, wie auf katholischer Seite das „Zentrum“.
Der Protestantismus war stets von einem massiven Nationalismus geprägt, so dass er praktisch keine Berührungsängste mit dem Nationalsozialismus hatte, jeder deutsche Waffengang wurde gesegnet, Soldaten wurden teilweise damit angefeuert, dass dem, der bereit sei zu töten, alle Sünden vergeben würden.
Im Ghetto von Theresienstadt sind 400.000 getaufte Juden, Christen, umgekommen, da sich die Kirchen nicht für sie einsetzten.
Nach 1945 gab es keine Aufarbeitung, erst mit den „Achtundsechzigern“ hatte die deutsch-nationale Dominanz nachgelassen. Und auch noch bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wurden 200.000 Kinder in evangelischen Zwangserziehungsheimen ausgebeutet und misshandelt.
Trotzdem ist es der EKD geglückt, heute in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit als eher widerständlerisch gegen die Nazi-Herrschaft dazustehen und den Protestantismus geschichtsklitternd als grundlegende Kraft der Aufklärung zu verkaufen.
Eine unsägliche Vergangenheit nicht ehrlich aufzuarbeiten, sondern zu vertuschen und dann stets mit dem Finger auf andere, die sich im Sinne einer modernen Ethik fehlverhalten, zu zeigen, ist leider, auch international gesehen, das beste Rezept, sich eine weiße Weste und gar ein Image als moralische Instanz zu verschaffen.